16.07.1824 - Schubert an seinen Bruder Ferdinand

Zeléz, den 16. (oder 17.) bis 18. July

Geliebtester Bruder!
Daß es mich wirklich etwas kränkte, daß ich sowohl von Haus als auch von Dir erst so spät ein Schreiben bekam, kannst Du mir aufs Wort glauben. Auch Leidesdorf läßt nichts von sich hören; ich habe ihm doch auch geschrieben. Sey doch so gut, u. sieh ein wenig nach bey ihm in der Kunsthandlung, er möchte mir doch schicken, um was ich geschrieben habe.* Auch kannst Du Dich um die Herausgabe des 3ten Hefts der Müllerlieder erkundigen, in der Zeitung sehe ich nichts. Über Deine Quartetten-Gesellschaft wundere ich mich umsomehr, da Du den Ignaz!!! dazu zu bewegen vermochtest. Aber besser wird es seyn, wenn Ihr Euch an andere Quartetten als die meinigen haltet, denn es ist nichts daran, außer daß sie vielleicht Dir gefallen, dem alles von mir gefällt. Die Erinnerung an mich, ist mir noch das Liebste dabey, besonders da sie Dich nicht so zu ergreifen scheinen als die Walzer bey der ungarischen Krone. War es bloß der Schmerz über meine Abwesenheit, der Dir Thränen entlockte, die Du Dir nicht zu schreiben getrautest? Oder fühltest Du beym Andenken an meine Person, die von ewig unbegreiflicher Sehnsucht gedrückt ist, auch um Dich ihren trüben Schleier gehüllt?
Oder kamen Dir alle die Thränen, die Du mich schon weinen sahst, ins Gedächtniß?
Dem sey nun, wie es wolle, ich fühle es in diesem Augenblicke deutlicher, Du oder Niemand bist mein innigster, mit jeder Faser meiner Seele verbundener Freund! – Damit Dich diese Zeilen nicht vielleicht verführen, zu glauben, ich sey nicht wohl, oder nicht heiteren Gemüthes, so beeile ich mich, Dich des Gegentheils zu versichern.
Freylich ists nicht mehr jene glückliche Zeit, in der uns jeder Gegenstand mit einer jugendlichen Glorie umgeben scheint, sondern jenes fatale Erkennen einer miserablen Wirklichkeit, die ich mir durch meine Phantasie (Gott sey's gedankt) so viel als möglich zu verschönern suche. Man glaubt an dem Orte, wo man einst glücklicher war, hänge das Glück, indem es doch nur in uns selbst ist, u. so erfuhr ich zwar eine unangenehme Täuschung u. sah eine schon in Steyer gemachte Erfahrung hier erneut, doch bin ich jetzt mehr im Stande Glück u. Ruhe in mir selbst zu finden als damals. – Als Beweis dessen werden Dir eine große Sonate u. Variationen über ein selbst erfundenes Thema, beydes zu 4 Hände, welche ich bereits componirt habe, dienen. Die Variationen erfreuen sich eines ganz besonderes Beyfalls. Über die dem Mohn übergebenen Lieder tröste ich mich, da nur einige davon mir gut erscheinen, als: die bey dem Geheimniß enthaltenen, Wanderers Nachtlied, u. der  entsühnte nicht aber  entführte Orest, über welchen Irrthum ich sehr lachen mußte. Suche wenigstens diese benannten sobald als möglich zurück zu bekommen.

Äußerte Kupelwieser nicht, was er mit der Oper zu thun gesonnen sey? oder wohin er sie schicke??

Die Quintetten (nicht Quartetten) des Stockesels Hugelthier sind aus Versehen mit mir gewandert, u. er soll sie bey Gott! nicht eher wieder erhalten, bis er sich durch eine schriftliche oder mündliche Abbitte seiner gemeinen Grobheiten entledigt hat. Wenn sich überdieß eine Gelegenheit zu einer derben Putzung dieser ungeputzten Sau ergiebt, werde ich nicht ermangeln, selbe ihm in tüchtiger Dosis zu ertheilen. Doch genug von diesem Elenden! –

Daß Du Dich recht wohl befindest, freut mich um so mehr, da ich hoffe, daß ich selbes Wohlbefinden mit dem meinigen kommenden Winter kräftiglichst genießen werde.
Grüße mir Ältern, Geschwister und Freunde innigstl Du sey mir 1000mahl geküßt sowie Deine gute Frau u. Kinder. Schreibe sobald wie möglich, u. lebe recht, recht wohl!l!
N. B. Was macht Karl und Ignaz? sie sollen mir doch schreiben.

Mit ewiger Liebe Dein Bruder Franz.

NB. Hat die Resi die Welt mit einem neuen Bürger vielleicht schon beglückt ? ? ?

Der Brief enthält einige Auslassungen im Abdruck von Kreissles Biografie (Seite 328). Er wurde zuerst 1878 komplett gedruckt in Signale für die musikalische Welt
1900 wurde er vom Antiquariat Buchhandlung Friedrich Cohen angeboten. Antiquariatskatalog: Musiker: meist kostbare Briefe und Musikmanuskripte der berühmtesten Komponisten, Virtuosen und Musikschriftsteller aller Zeiten u. Völker : nebst einer kleinen Auswahl von Musikdrucken u. Werken zur Musik-Literatur — Bonn: Friedrich Cohen, Nr. 98.1900