21.09.1824 - Schubert an Schober

Den 21. Sept. 1824

Lieber Schober!

Ich höre, Du bist nicht glücklich? mußt den Taumel Deiner Verzweiflung ausschlafen?
So schrieb mir Swind. Obwohl mich dieß außerordentlich betrübt, so wundert's mich doch gar nicht, da dieß beynahe das Loos jedes verständigen Menschen ist in dieser miserablen Welt. Und was sollten wir auch mit dem Glück anfangen, da Unglück noch der einzige Reitz ist, der uns übrig bleibt. Wären wir nur beysammen, Du, Swind, Kuppel u. ich, es sollte mir jedes Mißgeschick nur leichte Waare seyn, so aber sind wir getrennt, jeder in einem andern Winkel, und das ist eigentlich mein Unglück. Ich möchte mit Göthe ausrufen: „Wer bringt nur eine Stunde jener holden Zeit zurück!" Jener Zeit, wo wit traulich beyeinander saßen, u. jeder seine Kunstkinder den andern mit mütterlicher Scheu aufdeckte, das Urtheil welches Liebe und Wahrheit aussprechen würden, nicht ohne einige Sorgen erwartend; jener Zeit, wo einer den andern begeisterte, u. so ein vereintes Streben nach dem Schönsten alle beseelte. Nun sitz ich allein hier im tiefen Ungarlande in das ich mich leider zum zten Mahle locken ließ, ohne auch nur einen Menschen zu haben, mit dem ich ein gescheidtes Wort reden könnte. Ich habe seit der Zeit, daß Du weg bist, beynahe gar keine Lieder componirt, aber mich in einigen Instrumental-Sachen versucht. Was mit meinen Opern geschehen wird, weiß der Himel!
Ungeachtet ich nun seit , Monathen gesund bin, so ist meine Heiterkeit doch oft getrübt durch Deine und Kuppels Abwesenheit, und verlebe manchmahl sehr elende Tage; in einer dieser trüben Stunden, wo mir [ich] besonders das Thatenlose unbedeutende Leben, welches unsere Zeit bezeichnet, sehr schmerzlich fühlte, entwischte mir folgendes Gedicht, welches ich nur darum mitteile, weil ich weiß, daß Du selbst meine Schwächen mit Liebe u. Schonung rügst:

Klage an das Volk!

O Jugend unsrer Zeit, Du bist dahin!
Die Kraft zahllosen Volks, sie ist vergeudet, 
Nicht einer von der Meng' sich unterscheidet, 
Und nichtsbedeutend all' vorüberzieh'n.

Zu großer Schmerz, der mächtig mich verzehrt, 
Und nur als Letztes jener Kraft mir bleibet;
Denn thatlos mich auch diese Zeit zerstäubet, 
Die jedem Großes zu vollbringen wehrt.

Im siechen Alter schleicht das Volk einher, 
Die Thaten seiner Jugend wähnt es Träume, 
Ja spottet thöricht jener gold'nen Reime, 
Nichtsachtend ihren kräft'gen Inhalt mehr.

Nur Dir, o heil'ge Kunst, ist's noch gegönnt 
Im Bild' die Zeit der Kraft u. That zu schildern, 
Um weniges den großen Schmerz zu mildern, 
Der nimer mit dem Schicksal sie versöhnt.

Mit Leidesdorf geht es bis dato schlecht, er kann nicht zahlen, auch kauft kein Mensch etwas, weder meinige, noch andere Sachen außer miserable Mode-Waare.
Ich habe Dich nun so ziemlich bekannt mit meiner jetzigen Lage gemacht, u. ich erwarte mit Sehnsucht die Deinige sobald als möglich zu erfahren. Das Liebste wäre mir, wenn Du wieder nach Wien kämest. Daß Du gesund bist, zweifle ich nicht.
Und nun lebe recht wohl, und schreibe mir ja sobald als möglich.

Meine Adresse:
Zeléz in Ungarn,
Dein
über Raab u. Torock
Schubert.
beym Grafen Joh. Esterhazy
Adieu!!!

Der Brief wurde abgedruckt in Die Presse  17.04.1869 in Bauernfelds Memoiren.